Im Rahmen der Cantonale Berne Jura 2019 zeigt die Stadtgalerie eine Auswahl an künstlerischen Positionen, die auf Fragen zu Arbeit und Zugänglichkeiten, Sprache und Herkunft, Körper und Begehren, Gefühlen und Kollektivität eingehen. Was ist Care-Arbeit und weshalb wird sie nicht bezahlt? Wer spricht? Mit welcher Rhetorik? Es sind politische Themen und Fragen, die als Teil einer öffentlichen politischen Debatte verhandelt werden. Dahinter stehen Forderungen, die etwa im Rahmen des feministischen Streiks / Frauen*streiks deutlich gemacht werden. Die Ausstellung gibt denjenigen Positionen Sichtbarkeit, welche künstlerisch auf die gegenwärtigen Debatten reagieren und sich multiperspektivisch mit solchen Fragen auseinandersetzen. Denk- und Handlungsräume werden gebildet und es wird zu Austausch und Vernetzung eingeladen.
Bei LISA ZUBERS (*1996 in Bern, lebt und arbeitet in Bern) Werkserie handelt es sich um drei Malereien mit den Titeln Take Care (2019), Fade In (2019) und Never Alone (2019). In ihren Bildern wachsen organische Segmente aus geometrischen Formen und Farbflächen heraus oder werden von denselben verschluckt. Der reliefartige Auftrag der Farbe betont die Materialität und Körperlichkeit ihrer Malerei. Die Titel erinnern an Wünsche oder Versprechungen, wie sie unter Liebenden oder in Familien gemacht werden. Lisa Zuber interessiert was im familiären Kontext gesagt wird, respektive unausgesprochen bleibt. Es geht auch um Perspektivität – darum, welche Körper wie gesehen werden, und welche Fähigkeiten ihnen zugeschrieben oder abgesprochen werden.
Als «Katzentisch» wird ein separater, unvorteilhafter Platz, abseits der eigentlichen Tischordnung und somit auch abseits der Gemeinschaft bezeichnet. Der Begriff stammt aus dem 17. Jahrhundert und deutet auf einen Extratisch hin, der tiefer gelegt ist, sich näher am Boden befindet. Dort werden diejenigen Menschen platziert, denen abgesprochen wird, Einfluss auf die Mitgestaltung einer Gesellschaft zu haben. Der Katzentisch (2019) von FLURINA HACK (*1968 in Bern, lebt und arbeitet in Bern), welcher leicht über dem Boden schwebt und seine angestammte Position zu verlassen scheint, deutet auf eine Verschiebung der vorherrschenden Machtstrukturen hin. Der Tisch ist mit phosphoreszierender Farbe bemalt und wie ein Spiel angelegt. Schnapsgläser mit «Katzenaugen» sind die Spielfiguren. Die Strategien am Katzentisch bleiben jedoch geheim.
In der Videoarbeit How do stones grow? (2018) erscheint die Künstlerin OLIVIA ABÄCHERLI (*1992 in Stans, lebt und arbeitet in Bern) in der Figur einer Archäologin. In fiktiven Interviews berichtet sie von Ausgrabungen, bei denen Spuren utopischer Gesellschaften gefunden wurden. Dabei bedient sie sich auf ironische Weise einer westlich-ethnographischen Kolonialrhetorik. Olivia Abächerli geht der Frage nach, wie und ob kollektive Zukunftsvorstellungen aus individuellen Visionen herauswachsen könnten. Die Künstlerin lässt in ihrer Arbeit How do stones grow? Utopie mit Dystopie verschmelzen, sowie Vergangenheit mit Zukunft und Geschichtsschreibung mit ScienceFiction.
SELINA LUTZ (*1979 in Zürich, lebt und arbeitet in Bern) lässt im Aussenraum der Stadtgalerie die Fahne BAD MOOD (2019) hissen. Diese ist mit der Pantonefarbe 448 C bedruckt: laut einer Marktforschungsstudie «the ugliest colour in the world». Die Fahne ist eine Hommage an die schlechte Laune und wirft damit die Frage auf, ob diese womöglich mehr als emotionale Unausgeglichenheit ist. Kann schlechte Laune (legitimer) Ausdruck eines Unwohlseins sein, das durch Nachdenken über bestehende Verhältnisse hervorgerufen wird oder gar anarchische Geste, in einer Gesellschaft in der suggeriert wird, dass lächeln zum Erfolg führe?
Mit ihrer Audioinstallation wenn ich gross bin (2019) eröffnet MIRJAM AYLA ZÜRCHER (*1994 in Biel, lebt und arbeitet in Bern) einen Raum der Möglichkeiten und wagt einen Blick in ihre eigene persönliche ökonomische Zukunft. Die Protagonistinnen sind potentiell zukünftig existierende Varianten der Künstlerin selbst. Sie alle berichten davon, welche verschiedenen Schwierigkeiten es in der Kunstwelt, in der Familie und ganz grundsätzlich mit sich bringt, weiblich sozialisiert worden zu sein. Dies tun sie optimistisch bis tiefst schwarzmalerisch und sarkastisch. Die fünfzehn unterschiedlichen Textfragmente wurden von der Schauspielerin Nuria Sanchez eingesprochen. Als musikalische Einlage produzierten Zyvlavik (Zoé Bont und Yves Garnier) das Stück Smogen.
Im Herbst 2016 organisierte das KOLLEKTIV ROHLING gemeinsam mit Kompliz*innen aus der ganzen Schweiz eine Parade durch die Berner Altstadt. Sie gingen zusammen raus auf die Strassen, um gesellschaftliche Vielfältigkeit zu feiern. Die Teilnehmenden schwangen Fahnen mit musikalischer Begleitung eines Orchesters und trugen Masken, die auf transparenten Tüllstoff aufgebracht sind. Der performative Umzug wird als sinnliches und poetisches Ereignis erinnert. Die Arbeit I AM BECAUSE WE ARE (2017) fügt die einzelnen damals getragenen Masken zu einem Gesamtwerk zusammen. Sie wurden für die Parade von Menschen aus dem Kollektiv Rohling handgefertigt. Übertragen in den institutionellen Rahmen einer Ausstellung kann die Arbeit als Manifest für Diversität gelesen werden.
Ein zeitloser und digitaler Raum, in welchem schwebende Symbole ein Narrativ andeuten, gefolgt von einer Ego-Shooter-Perspektive. Das Gewehr auf den offenen Horizont gerichtet über dem vermeintlich idyllischen Meeresspiegel. Die Schüsse scheinen sich stumm in der Weite zu verlieren. Oder richtet sich die Waffe auf die eingeblendeten Zitatfragmente, welche kurz aufblitzen und flüchtig nachhallen? Die Arbeit Liberty Trapped On a Moebius Strip (2019) von PHILIP ORTELLI (*1991 in Bern, lebt und arbeitet in Zürich und Amsterdam) handelt vom Gefühl der Angst, als zentrales Gefühl unserer Zeit. Auf der Suche nach Wahrheit und Klarheit verweist Philip Ortelli – ausgehend von einem Zitat der Autorin und Kunstkritikerin Maggie Nelson – auf den Moment der Ohnmacht, mit welchem Menschen mit queeren Lebensrealitäten wiederholt konfrontiert werden.
JEANNE JACOBS (*1994 in Neuchâtel, lebt und arbeitet in Biel) Bilder entstehen intuitiv, aus spontanen Gesten heraus. Die in Schichten aufgebaute Malereien lässt die jeweiligen Entscheidungen im Malprozess teilweise sichtbar. Jeanne Jacob erzählt humorvolle und widersprüchliche Geschichten von Intimität, Begehren und Idealen. Fragen zu Körper und Gender sind für die Künstlerin zentral. In mit der Zigi (2019) lässt sie ihre Figuren die romantischen Codes heteronormativer Vorstellungen von Sexualität befragen. Die Charaktere in Le Printemps (2019) zeigen sich lustvoll in ihrem Begehren und ihrer Verletzlichkeit. Die Blicke der Protagonist*innen suchen über den Bildrand hinweg – in den Ausstellungsraum hinein – nach Resonanzen.
Die Videoinstallation IF IT’S INVISIBLE IT DOESN’T EXIST, I GUESS (2019) von ALIZÉ ROSE-MAY MONOD (*1990 in Châtel-Saint-Denis, lebt und arbeitet in Bern und Lausanne) besteht aus mehreren Elementen. Einerseits aus vertrockneten Zimmerpflanzen, die dem häuslichen Kontext entnommen, und im Ausstellungsraum platziert wurden. Andererseits aus einem Video, in welchem die Künstlerin Text- und Bildfragmente zu einem vielschichtigen Erinnerungsprotokoll formiert. Sie thematisiert ihre Erfahrungen in Kairo, wo sie sich für einen sechs monatigen Rechercheaufenthalt befand, und ihre damit einhergehende Abwesenheit am landesweiten feministischen Streik in der Schweiz. Die Arbeit von Alizé RoseMay Monod ist eine Reflexion über alltägliche feministische Widerständigkeit.
the distance between your master and your servant (2019) ist eins von mehreren Handgemalten Text-Wandbildern von JOHANNA KOTLARIS (*1988 in Schaffhausen, lebt und arbeitet in Zürich), welche für die diesjährige Cantonale Berne Jura entstanden sind. Diese grossformatigen Arbeiten sind eine Weiterentwicklung der fortlaufenden Serie the distance between (seit 2018). Eine Serie bestehend aus einer Liste von Sätzen, welche stets mit derselben Formel «the distance between…» beginnen. Die Künstlerin untersucht, wie Nähe und Distanz den Moment und die Qualität des mit Etwas-in-Beziehung-Tretens beeinflussen. Für ihre Arbeit in der Stadtgalerie bedeutet das konkret: In welchem Verhältnis stehen die Rezipient*innen zu dem was sie, in grossen Lettern geschrieben, an der Wand lesen? Und mit der Logik welcher Konzepte bringen sie das Gelesene mit sich in Verbindung?
Für FARZANEH YAGHOUBINIA (*1977 in Täbris, lebt und arbeitet in Hünibach) ist das Format des Selbstportraits die kleinstmögliche Projektionsfläche. Sie sieht darin die Möglichkeit, die Gesellschaft und ihre Geschichten, aber gleichzeitig auch sich selbst als Teil und Rezipientin derselben, zu reflektieren. Anstelle eines Gesichts sind in den Teppichportraits (2019) allerdings Fragmente von Teppichen zu sehen. Einerseits referiert die Künstlerin hier auf die Anonymität der traditionellen Teppichproduzent*innen und deren Arbeitsbedingungen. Andererseits auch auf Erinnerungen an transgenerationelle Erzählungen aus ihrer Kindheit, in denen der Teppich mit seinen Darstellungen von Tieren und Pflanzen als Träger poetischer Geschichten dient.
An Stelle des Feuers (2019) lautet der Titel der Videoinstallation von SYBILL HÄUSERMANN (*1982 in Zürich, lebt und arbeitet in Bern). Es handelt sich um ein Satzfragment aus einer deutschen Übersetzung des Pandora-Mythos. Pandora, die erste Frau des Menschengeschlechts, öffnet darin die bekannte «Büchse der Pandora» und bringt so die bis anhin unbekannten Übel in die Welt, wie Tod, Arbeit und Krankheit. Es ist, wie die biblische Erzählung von Eva, die den Apfel isst, auch eine Geschichte in der sich im Laufe ihrer Überlieferungen misogyne Umdeutungen eingeschrieben haben. Im Video ist die Künstlerin bei repetitiver, körperlicher Verrichtung verschiedener Handlungen zu sehen. Dies kann als Allegorie jener Arbeit gesehen werden, die alltäglich geleistet wird, um misogyne Muster und Geschichtsschreibung zu durchbrechen.