JENNIFER MERLYN SCHERLER bedient sich in ihrer Videolecture My Internet Is Not Your Internet But My Reality (2021) Infotainment-Formaten der Netz- und Youtubekultur. Durch die Linse der Selbstdarstellung und (Neu)-Definierung des Selbst im Internet, spricht Jennifer Merlyn Scherler über die Chancen und Herausforderungen der zeitgenössischen Onlinekultur. Das Internet ist keine neutrale Infrastruktur; Mechanismen der Ausgrenzung werden verfestigt und bleiben der Struktur immanent. Das Video basiert auf Recherchen der Künstlerin über die Art und Weise, wie die monopolisierten Online-Plattformen Sexarbeiter*innen durch die Umsetzung nationaler Gesetze, Inhaltsrichtlinien und digitale Gentrifizierung von den sozialen Medien ausschliessen.
SEREINA STEINEMANN nutzt ihre Malereien als Ort der Kommunikation. Ihre Bilder sind wie ein optischer Trick: Sie sind reduziert auf einfache, zeichenhafte Bildgehalte, während sie sich gleichzeitig als abstrakte Malerei ausgeben und Freude an Farbe, Material und Komposition zelebrieren. Das Bild Tasse (2018/2019) hat seinen zweiten Auftritt in der Stadtgalerie. Im August war es Motiv eines fiktiven Ausstellungsplakats der Künstlerin als Teil der Ausstellung Galleria Di Berna und ist nun in der Cantonale Berne Jura 2021 im Original zu sehen.
In der Videoperformance Stereotypes – biographical notes (2020) von SYBILL HÄUSERMANN sind die Hände der Künstlerin zu sehen, wie sie langsam durch eine kalenderartige Publikation blättert. Die gestempelten Statements die darin zu lesen sind, folgen einer losen hypothetischen Biografie und setzen sich stetig mit dem ambivalenten Begriff des Stereotyps auseinander. Mal als soziale Kurzschrift, welche komplexe Inhalte auf eine schnell erfassbare Chiffre kollabiert, mal als gewaltsam einschränkendes Konstrukt gesellschaftlicher Erwartung, befragt die Arbeit unser Verhältnis zu Selbstbild, Gruppenbildung und Sprache.
Die Arbeit komme erst am 28.02. um 12,30 oder anrufen (2020) stammt von der Künstlerin SOPHIE SCHMIDT. In ihrer Praxis reproduziert sie von Hand gesammelte, alltägliche Dokumente wie Wartemarken, Kassenbons oder Telegramme in vergrössertem Massstab in Aquarell auf Papier. Entrückt von ihrem ursprünglichen Kontext, gewinnt sie ihnen eine neue Präsenz und Poesie ab. Die Telegramme stammen aus ihrer persönlichen Korrespondenz und verbinden Biografie und Weltgeschichte: Als die Künstlerin Ende der 1980er Jahren in Westberlin lebte, boten Telegramme die einzige Möglichkeit der kurzfristigen Kommunikation mit Freund*innen aus Ostberlin.
Die beiden Schläger der Arbeit Zwillinge (2020) bleiben so lange identisch, bis sie durch CHRISTOPH STUDER in einem performativen Eingriff unterschieden werden. Sie sind gleichförmig aus demselben Ahornholz, vom gleichen Baum, gedrechselt und verfügen über identische Aluminiumeinlagen. In der Performance, die am Tag der Ausstellungseröffnung stattfindet, wird einer der Schläger benutzt, der andere bleibt unbenutzt. Die Abwesenheit von Schlagspuren werden ebenso Informationsgehalt wie die Spuren selbst. Die Spuren der Energieeinwirkung des einen, wie auch die Unversehrtheit des anderen, versteht der Künstler nicht als wertende Differenz, sondern lediglich als eine Aufzeichnung aller performativen Gesten.
Wie bei einer ausserkörperlichen Erfahrung, schwebt der Blick der Betrachter*innen über drei Personen, die erstarrt in einem Zimmer auf Pritschen liegen. Im Cheminée lodert ein Feuer, Perspektiven verzerren sich, und der Blick verliert sich in den Tiefen des Teppichgewebes. Im Bild K-Hole (2020) von MATTHIAS WYSS verschränken sich die inneren und äusseren Realitäten dreier Personen die sich in privater, häuslicher Atmosphäre im Ketaminrausch befinden.
An die Farbstiftzeichnungen von NICOLAS GRAND muss sich das Auge erst gewöhnen, bis sich im hellen Muster der feinen Striche Figuren und Details abzeichnen. Seine Bilder sind an den Grenzen des Sichtbaren. Das Wahrnehmen wird in seinen Zeichnungen explizit zu einem Akt der Rekonstruktion und Projektion, als wenn sich die Betrachtenden an eine lang zurückliegende Szene oder an einen halb vergessenen Traum zu erinnern versuchten.
Die Arbeiten 21‘014 und 21‘015 (2021) hat LUKAS VERAGUTH aus wiederverwendeten Lamellen von Jalousien gefertigt. Der Künstler überführte im Werk die ursprünglich waagerechte Anordnung in eine senkrechte Rhythmisierung. Die metallenen Oberflächen der farbigen Lamellen reflektieren das einfallende Umgebungslicht. Die Schnur, welche vormals die Funktion der Jalousien gewährleistete, wird in pinker Farbe zu einem rhythmischen Muster, das dem Relief eine textile Qualität verleiht.
Die Arbeit Hotspot (2021) besteht aus einem Paar Topflappen, die aus den Fasern der Brennnessel gefertigt wurden. In aufwändiger Handarbeit trennte die Künstlerin CHRISTINE HURST die Fasern der hautreizenden Pflanze vom Holz und verwebte und umhäkelte diese zu Topflappen unterschiedlicher Form. Die Objekte der Serie Hotspot erzählen gleichzeitig von Schutz wie auch von vergangener und potenzieller Verletzung.
Die Installation von SAMUEL HAETTENSCHWEILER setzt sich aus zwei Transportkarren zusammen, die sich mit ihrem Transportgut, bestehend aus Fundstücken, zu Assemblagen formieren. Den Objekten Zwei Gefährte (2021) ist ihre Atelierproduktion anzusehen. Als einfache Transportvehikel verweisen sie in humorvoller Weise auf eine einfache, aber auch mühelose Form der Kunstdistribution. Die beiden Gefährten sind das Gegenteil von Effizienz. Ohne Versprechen nach Vollkommenheit bilden sie eine Hommage an das Unstete. Sie bleiben temporäre Besucher.
Als Teil ihrer intensiven, langjährigen Beschäftigung mit Stickerei entwirft STÉPHANIE BAECHLER in einem Abstand von zehn Jahren eine Ätzstickerei, welche die jeweiligen Kabelstandards der Gegenwart abbilden. Dem industriellen Stickvorgang liegt hierbei ein sogenannter PUNCH zugrunde, welcher die Stichfolge in abstrahierten Vektoren darstellt. Ebendieser Bauplan wurde für die gezeigten Stickereien auf das Sechsfache vergrössert und der Stoff danach auf Siebdruckrahmen aufgespannt. Die Verschränkung von Oberfläche und Information lässt Assoziationen mit integrierten Schaltungen aufkommen.
Drei räumlich angeordnete Diaprojektoren strahlen das bewegte Lichtbild eines Wasserfalles an die Wand. Obwohl die Animation nur aus zwei Phasen besteht, scheint das Wasser in ständigem Fluss zu sein. Der einfache Trick stammt aus einem Schweizer Lehrbuch der 1970er Jahren zur amerikanischen Zeichentrickfilm-Praxis. REMO STOLLER hat die Animation mit einem umständlichen Gerät umgesetzt; über Umwege und Beschränkungen, gerade so, als wäre das gängige Medium des Films so (noch) gar nicht erfunden worden, als wäre der erste Zauber des bewegten Bildes (noch) überhaupt nicht verblasst.
LAURA GRUBENMANNS Werk unter Fliegen (morgens) (2021) besteht aus einer Malerei, Objekten und einer Performance. Im Bild liegen zwei Figuren schlafend oder sich im Halbschlaf befindend auf einfachen Laken in einem leeren Raum, der nur noch durch eine Kolonie Fliegen bewohnt wird, die sich in einer Steckdose eingenistet haben. Die Ahnung von süsslicher Zersetzung in diesem Zusammenleben setzt sich in der textilen Arbeit und Performance blutsverwandt fort, welche an der Ausstellungseröffnung gezeigt wird. Performer*innen tragen Hemden, die mit Insekten und Pflanzensamen bestückt sind. Die Flecken auf dem Stoff erinnern an das Blut, das hier andere Organismen nährt. Es zeichnet sich der Schrecken des sich selbst bewussten Ichs ab, als Teil eines unentrinnbaren Systems mit fliessenden Grenzen und Abhängigkeiten.
Karstlandschaften sind im Juragebirge oft anzutreffen. Die Erosion des Kalksteins prägt die Landschaft und macht gleichzeitig das Fortschreiten von Zeit erfahrbar. DARKO VULICS Steinarbeiten Libération de l’âme de la pierre (2020-2021) bedienen sich eines eigenen, beschleunigten Erosionsverfahrens: Das Juragestein wird mit Salzsäure behandelt, um neue Formen und Zeichnungen in die Oberfläche einzuschreiben. Die Zeichnungen von Darko Vulic erhalten in Stein geätzt eine tiefenzeitliche Qualität.
BARBARA FEUZ Objekte aus der Serie Ensemble (2016, 2021) wirken manchmal wie aufgehängte Kleider, die ein Tragen durch menschliche Körper andeuten. Ein andermal wie lampenschirmähnliche, geometrische Hüllen; Kostüme eines sich andeutenden Balletts der Formen und Körper. Gefertigt sind die Objekte aus Textilien und gefaltetem Zeichenpapier, bearbeitet mit Grafit- und Farbstiftzeichnungen. Die Faltungen erinnern an Halskrausen oder Hüfthalter, die jedoch keine Rückschlüsse auf das Geschlecht möglicher Tragenden zulässt.
Die Aufnahmen für das Video Ich bin (2020) von NICOLLE BUSSIEN entstanden während einer Performance der beiden Dragkünstlerinnen Steela Diamond und X Noëme. Das Video dokumentiert ihren Verwandlungsprozess zwischen Garderobe und Bühne. Durch Spiegelungen, Verschiebungen und Zeitsprüngen wird die Linearität der Aufführung im Medium Video gebrochen und Binaritäten von weiblich / männlich, natürlich / künstlich hinterfragt. Rotierende Spiegel stören die Hierarchien der Betrachtungsperspektive und machen das Publikum wie das Filmteam selbst zu Protagonist*innen.
Kuratiert von Luca Beeler & Christoph Studer
Jury: Luca Beeler & Miriam Laura Leonardi