LEA LUZIFERs (*1996, lebt und arbeitet in Bern) Werk beruht auf dem Prozess des Sammelns. Gefundenes erscheint vor heterogenem Hintergrund in veränderten Arrangements und unerwarteten Kombinationen, wodurch sie neue poetische Gefüge und Zeichensysteme schafft. Dabei bewegt sich ihre Arbeitsweise stets zwischen Kontrolle und Zufall. Die durch Auftrennen einer Digitalfotografie erzeugte Werkserie Kettenbrechen (2021) bedient sich der Ästhetik unerlaubter Schnappschüsse und wirft so Fragen nach privatem und öffentlichem Raum sowie der Komplizenschaft der Betrachter:innen auf.
Die künstlerische Praxis von SANDRA STEINER-STRÜTT (*1967, lebt und arbeitet in Courrendlin) umfasst Malerei, Soundinstallationen, Video, Poesie und Performance. Die Künstlerin arbeitet oft mit Aneignung von Fremdmaterial, das sie, integriert in multimedialen Installationen und Inszenierungen, in politische und gesellschaftliche Kontexte stellt. Die Malerei Pelzchen 3 (2022) basiert auf einem Portrait der Gräfin Jekaterina Wassiljewna Wjasemskaja, geb. Wassilchikowa (1773-1816), das um 1800 von einer:m unbekannten Künstler:in gemalt wurde. Die Adaption ist für die Künstlerin eine Möglichkeit, mit den Mitteln der Malerei in Beziehung und Dialog mit Vergangenem zu treten, um so Gegenwärtiges zu erörtern.
DANIEL KURTHs (*1985, lebt und arbeitet in Basel) Umgang mit den Letters steht exemplarisch für seine Praxis, die Kontextverschiebungen und Rekonfiguration produktiv macht, um bestehenden Werken erweiterte Bedeutungen abzugewinnen. Die Letters sind handgefertigte Buchstaben, basierend auf der Schriftart der US-amerikanischen Strassenbeschriftung, die wiederum gefundenen Fotografien eines Roadtrips entspringen. In seinem Werk können sie unterschiedliche Anordnungen und Erscheinungen annehmen, die über ihre Funktion als Zeichen immer auch als Objekte befragt werden können: In der Stadtgalerie zeigt er drei Gruppen von übereinander gelegten Lettern. Es handelt sich um drei unterschiedliche Permutationen derselben Schriftzeichen: BALANCE, BAANCEL, AABNLEC.
SIMON FAHRNIs (*1987, lebt und arbeitet in Bern) Malerei wirkt auf den ersten Blick unaufgeregt, wie beinahe zufällige, organische oder durch Witterung entstandene Oberflächen. Dennoch sind sie durchdrungen von mäandrierenden, künstlerischen Entscheidungen, durch die sie eine Tiefe gewinnen, die sich bei längerer Betrachtung auftut: « Die Bilder sind quasi Nebenprodukte von alltäglicher Ablenkung, von streifenden banalen Gedanken am Rande des gewohnten Fokus. Ständig zaudernd, stockend, richte ich meinen Blick auf die Ränder und die Ritzen, wo ich womöglich ein kurzzeitiges provozierendes Aufblitzen von Sinn und Bedeutung erkennen kann.»
Das Objet-livre stratographie (2019–) von DARKO VULIC (*1960, lebt und arbeitet Boncourt) ist ein Tagebuch aus Bettlaken. Das Buch ist für den Künstler ein Ort der malerischen Aufzeichnung spontaner Gedanken. Wie Sedimentschichten fügen sich die Blätter mit seinen Aufzeichnungen zu einem hügelartigen Buchobjekt zusammen: Seine persönliche Zeit und die überpersönlichen Zeichen denen er sich bedient, schreiben sich Schicht für Schicht ein. 2016 war der Künstler gezwungen, lange Zeit im Bett zu verbringen: «Nach und nach begannen die Bettlaken, in die ich eingewickelt war, in meine Gedanken und Träume einzudringen.»
Für ihre Arbeit Heim / Werro (2021) eignet sich PIA HEIM die Tütschis des Berner Künstlers Roland Werro (1926–2018) an. Die Tütschis sind bemalte Holzquader, die Werro ab 1986 als Wandobjekte fertigte. Pia Heim realisierte mit den Quadern 2021 temporäre Anordnungen im öffentlichen Raum der Stadt Bern, die Fragen nach Autor:innenschaft und dem Umgang mit Nachlässen aufwerfen und an Wertkriterien rütteln. In der Stadtgalerie zeigt sie eine Neuanordnung der Quader und die Dokumentation ihrer temporär realisierten «Versammlungsorte».
JAN VAN OORDTs (*1980, lebt und arbeitet in Saint-Imier) Praxis entfaltet sich im Eingebettetsein in spezifische Strukturen und geteilte Lebensräume. Sie situiert sich innerhalb von Beziehungen und Interdependenzen als Dialog, Einbettung oder Erweiterung. Seit 2018 betreibt er die Künstler:innen-Residenz La Dépendance in Saint-Imier, die für den Künstler zum spezifischen Ort der Reflexion und künstlerischen (Ko-)Produktion wurde. Die Malereien Umwelt (2022) und Days (2022) thematisieren durch den Abdruck des Keilrahmens ihre eigene materielle Bedingung und verweisen dadurch auf die Konstruktion von Landschaft.
Die Serie Fragmente (2022) von CHRISTOPH STUDER zeigt Männerkörper in unterschiedlichen Posen mit Hundeköpfen, die an die Masken der Pupplay Community erinnern. Die teils fragmentierten Körper werden zum Ausdruck unterschiedlicher mentaler Zustände wie Angst, Kontrollverlust, Dissoziation oder Zwang. Lebe dein bestes Leben. Bleib positiv. Alles, was du brauchst, ist Liebe. Motivationssprüche haben einen seltsamen Imperativ. Wer spricht hier zu wem? In ihnen vermählt sich die Selbstverwirklichung der Hippies mit der Selbstverantwortung der Neoliberalen. Die Holzschnitt-Plakate von CELINE AERNOUDT (*1995, lebt und arbeitet in Brüssel) & EMILE VAN HELLEPUTTE (*1992, lebt und arbeitet in Brüssel) ergänzen diese Imperative der Selbstoptimierung zu Sätzen der politischen Agitation. Mit ihrem Modell der Stadtgalerie im Massstab 1:10, das eine überlegene Perspektive suggeriert, wirft ihre Arbeit Fragen zu Machtverhältnissen und politischer Selbstbestimmung auf.
HANS-JÖRG MONING (*1950, lebt und arbeitet in Courtelary) BigBang Homemade 4 (2021) ist das vierte Bild aus der gleichnamigen Serie. Die Serie zeigt Pilzwolken, die den Dokumentationen unterschiedlicher Kernwaffentests entstammen. Ein Netz von Punkten legt sich wie ein Koordinatensystem über die Bilder und konfrontiert die wissenschaftliche Rationalität mit dem atomaren Horror.
RAFFAELLA CHIARA (*1966, lebt und arbeitet in Bern und Thun) arbeitet mit Zeichnung und Drucktechnik. In ihren vordergründig abstrakten Serien konfrontiert sie Themen der Malerei mit bildgebenden Verfahren der Wissenschaft und anderen visuellen Repräsentationen abstrakter Gesamtzusammenhänge. Ihre Bilder wirken wie Benutzeroberflächen an der Schnittstelle von Visualität und Taktilität. Spezialisierten Bildverfahren gewinnt die Künstlerin eine ästhetische Präsenz ab und lässt unterschiedliche, von sich getrennte Disziplinen in einen Dialog treten.
LUAN WEBERs (*2001, lebt und arbeitet in Thun) Zeichnungen entstehen als Betrachtung der wachen Welt, «wie durch den Schleier des Traums hindurch». Ausgehend von Details, beobachtet in alltäglichen Begegnungen, schafft Luan Weber entrückte Portraits. Die Figuren von Luan Weber sind keine isolierten Entitäten. Im Traum oder Rausch zersetzt sich das, was wir als Einheiten wahrnehmen in Einzelteile, Musterungen und Fraktalen, um neue Formen anzunehmen. Die androgyne Figur im Bild Kontakt (2022) mit ihrem auf die Betrachtenden gerichteten Blick hat eine deutliche Präsenz und dennoch ist ihr eine liquide, temporäre Qualität inne.
SAPIR KESEM LEARYs (*1988, lebt und arbeitet in Bern) Malereien zeigen persönliche, alltägliche Situationen. Musterungen, Spiralen und gekippte Fluchten entfalten eine Sogwirkung: Der Raum wird zur erweiterten Architektur zwischenmenschlicher Beziehungen, Exzess, Einsamkeit oder Trauma. «Ich ziehe es vor, meine eigenen Erfahrungen zu malen.» Das Überführen der Erinnerung ins gemalte Bild ist für die Künstlerin immer auch der Versuch vom Persönlichen zu sozialen, allgemeinen Themen zu gelangen.
Blei ist ein wiederkehrendes Material in der Praxis von SELINA LUTZ (*1979, lebt und arbeitet in Bern), die Malerei, Skulptur und Installation umfasst. Wer war noch nie in einem alten, leerstehenden Einfamilienhaus der 1950er bis 1980er Jahre? Es sind Orte der Anti-Nostalgie. Träume, Ideologien und Lebensmodelle von Generationen sind darin konfrontiert mit einer viel zu realen Schicht aus Staub und Verwitterung. Vielleicht wurden Materialien verbaut, die als innovativ galten, die potenziell unsere Körper versehren. Die Arbeit Merry Widow Fizz (2022) von Selina Lutz konfrontiert Nostalgie mit einem materiellen Nachdruck, nicht zuletzt durch ihre Verwendung des giftigen Schwermetalls Blei.
HANNES ZULAUFs Bilder Ohne Titel (Sugar Coating) (2022) entstammen einer Serie pinker Landschaftsmalereien. Man könnte sie als eine Art der subjektiven Bewältigung von Malereigeschichte Verstehen: Der Künstler arbeitet sich, reduziert auf drei Farben, an Topoi der Landschaftsmalerei ab. Wie in einer pinken Ausnüchterungszelle oder der die 1950er und seine Rollenbilder beschwörende Zuckerguss auf Cupcakes, kippt die liebliche Farbe in Hannes Zulaufs Bilder manchmal ins latent Bedrohliche. In Auseinandersetzung mit der Geschichte der Malerei ist diese Serie u.a. als eine Beschäftigung mit nationalistischer Vereinnahmung von Landschaftsmalerei zu verstehen.
GUADALUPE RUIZ (*1978, lebt und arbeitet in Biel) & JANOSCH PERLER (*1991, lebt und arbeitet in Biel) durchschreiten in ihrem Video La Pastora de las Cosas (2022) den Arbeitsort und persönlichen Lebensraum von Guadalupe Ruiz, ihrem Sohn, ihrem Partner und ihrer Katze. Die Kamera folgt dem Sonnenstand durch die Räume des Hauses, so dass jeweils ähnliche Lichtverhältnisse vorhanden sind. Dadurch schaffen sie Voraussetzungen wie in einem Fotostudio, wo über die Produktion von Bildern die grösste Kontrolle erreicht werden kann. Gegenstände und Bewohner:innen werden zu Akteuren eines fotografischen Blicks, der sich gleichzeitig am Tagesablauf und an der übergeordneten Zeitlichkeit der Sonne orientiert. Das Video verbindet in poetischer Weise Bild- und (Lebens-) Raum, gerichteter Blick und Alltag.
TOBIAS HAUSWIRTH (*1998, lebt und arbeitet in Biel) interessiert sich in seiner Malerei für zeichenhafte Flächen. In Mauer 1 & 2 (2022) schichtet er Stein für Stein in unterschiedlichem Grau zu einer Mauer, die sich exakt über das Format der Leinwand erstreckt und nur am oberen Bildrand einen Blick dahinter suggeriert. Die darstellende Malerei kann sich manchmal anfühlen wie eine Wand aus Farbe, indem sie durch das Abbilden die materielle Dimension eines Bildes negiert. So lautete zumindest eine gängige Kritik abstrakter Maler:innen. Vielleicht ist Mauer 1 & 2 ein humorvoller Kommentar einer Malerei, die Abstraktion und Figuration miteinander vereint.
JEAN-MARIE EGGER (*1953, lebt und arbeitet in La Chaux-de-Fonds) arbeitet oft mit vorgefertigten und gefundenen Materialien. Mit reduzierten Mitteln und Eingriffen schafft der Künstler ein referenzreiches Werk, oft in Abgrenzung und Auseinandersetzung mit der Kunst des 20. Jahrhunderts.
Der spanische Titel von NADINE K. CENOZ (*1989, lebt in Bern und Buenos Aires) Serie Rajadas (2022) kann mit «ritzen», «(auf)schneiden» oder «aufspalten» übersetzt werden. In argentinischem Spanisch bedeutet er umgangssprachlich so viel wie «sich aus dem Staub machen». In Anlehnung an Deleuze und Guattaris Konzept der Flucht, kann für Nadine K.Cenoz das Fliehen als ein revolutionärer Akt verstanden werden, in dem das markiert wird, vor dem man flieht. In dem Sinn ist Rajar für die Künstlerin «ein konzeptuelles Werkzeug um im Hegemonischen, im Gelernten, im Wiederholten, in binären Imperativen Spuren, respektive Fluchtlinien zu hinterlassen.» Die in Plexiglas gekratzten Körper ergründen das Verhältnis zwischen Körper und Umgebung, indem der Raum, den die Figuren umgibt, von Unbestimmtheit geprägt wird.
Auf der Grundlage der jahrhundertealten Tradition der Stilllebenmalerei schafft MARIUS STEIGER (*1999, lebt und arbeitet in London) Arbeiten, die Fragen zu Authentizität und Artifizialität sowie zu der zunehmend angespannten Beziehung des Menschen zur natürlichen Welt aufwerfen. Steiger beginnt seinen Prozess mit 3D-Modellen, die er anschliessend in Malereien und Skulpturen überträgt. In ihrer polierten, synthetischen Wiedergabe organischer Materie wirken die Gemälde, die wie digitale Subversionen der Vanitas-Malereien daherkommen, gleichermassen verführerisch wie beunruhigend. Einfach, aber mit viel Liebe zum Detail wird die Natur auf 3D-Darstellungen von Pflanzen und Blumen reduziert, die uns bei einem Spaziergang im Wald begegnen könnten.
Auswahl durch Gianmaria Andreetta, Luca Beeler und Seraphin Reich.