KunstArchivKunst möchte die Relevanz von Archiven für den zeitgenössischen Kunstbetrieb in den Vordergrund rücken. Nicht nur für die kunsthistorische Forschung, die kuratorische Recherche oder die verwaltende Nachlassbewahrung spielen Archive eine entscheidende Rolle, auch Künstlerinnen dienen eigene, aber auch offiziell-staatliche oder private thematische Archive als Arbeitsinstrument, Horizont und Kategorie für neue Werke. Im Archiv, das neben dem räumlichen Aspekt der Lagerung auch Praktiken des Selektionierens, Sammelns, Ordnens und Zugänglichhaltens meint, treffen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander – ohne jegliche Metaphorik. Grundsätzlich ist es der Ort, wo Geschichte genauso geschrieben wie revidiert und Zukunft gestaltet wird. Das Archiv, meinte der französische Philosoph Michel Foucault in den 1970er Jahren, repräsentiert nicht historische Tatsachen, sondern es ist prägende Instanz, wenn es darum geht, wie historische Umstände überhaupt wahrgenommen werden – das Archiv als ein «Gesetz dessen, was gesagt werden kann». Eine Überlegung, die sich in der heutigen Zeit, in der die Digitalisierung längst alle Lebensbereiche durchdrungen hat, zusätzlich potenziert. Zwar scheinen im unablässigen Datenstrom mehr Möglichkeiten denn je vorhanden, Ereignisse manifest werden zu lassen und als Protagonist sich zu artikulieren, doch steilt sich für die nächsten Jahrzehnte umso dringlicher die Frage, welche digitalen Spuren übrig bleiben und wie – im machtskeptischen Sinne Foucaults – die Wahrnehmung von Ereignissen dabei geformt wird.
Bezüglich diesem archivtheoretischen Überbau masst sich KunstArchivKunst nicht an, Antworten zu geben, was die Ausstellung aber will, ist hinsichtlich nationalen und internationalen Archiven, Online-Datenbanken, Künstler-Dokumentationsstellen und Nachlassverwaltungen Informationen bereitzustellen. Dokumente zum Archiv Serge und Doris Stauffer, zum Ars Electronica Archiv, zur ART-Nachlassstiftung für Kunstschaffende Bern, zur Basis Wien, zum Bildwechsel-Bases Hamburg, zum DOCK Basel, zu fotoCH, zu Franklin Furnace New York, zum Medien Kunst Netz des Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, zum Rheinisches Archiv für Künstlernachlässe, zur Schweizerischen Nationalbibliothek, zum SIK-ISEA, zur visarte sind vorhanden und können kopiert oder käuflich erworben werden. Als besonders reichhaltig ist dabei die Materialauswahl, welche das 1976 gegründete New Yorker Franklin Furnace Archive zur Verfügung stellt, unter anderem das von Künstlerinnen gestaltete Mitteilungsblatt The Flue, welches in der Erstausgabe vom September 1980 vorliegt.
Ebenfalls im Info-Raum zu sehen sind die in limitierter Auflage erhältlichen, signierten und nummerierten OVRA EDITION, welche je von einem OVRA Archives-Mitglied gestaltet wurden. Aktuell von MYRTHA STEINER (1962). Sie geht in ihren Malereien, Zeichnungen und Druckgrafiken der Wahrnehmung von Natur nach.
Im Hauptteil von KunstArchivKunst sind künstlerische Werke und Beiträge von ausgewählten Künstlerinnen der Archivierungsprojekte OVRA Archives und DOCK Basel zu sehen. Der Ausstellungsteil operiert mit einem offenen Archivbegriff und die Abgrenzung zur Sammlung oder zum Inventar ist meist nicht streng gezogen. Künstlerische Beschäftigungen mit den Topoi Spur und Erinnerung, die Befragung von eigenen Arbeitsprozessen und damit verbundenen Ordnungs- und Zugriffsstrukturen, die inszenierende Offenlegung oder die Verweigerung der Einsichtnahme in angehäufte Material sowie die Frage nach künstlerischen Formen der Aktivierung und Veröffentlichungen von fremden Archivmaterial stehen im Zentrum.
MARICA GOJEVICs (1968) Erinnerungsräurne von 1999 ist ein Video-Inventar all ihrer damals im Haushalt vorhandenen Objekte. Die Küchenutensilien, Kleider oder Bucher wurden jeweils kurz von der Künstlerin vor einem neutralen, weissen Hintergrund aufgenommen. Durch die unterschiedlichen Takte des Hineinlegens und Hinausnehmens entsteht eine rhythmisierte Studie ihrer materiellen Besitztümer, wobei sich zufällige formale oder inhaltliche Parallelen zwischen den fünf zur Präsentation eingesetzten Monitoren ereignen. Die weisse Hintergrundfläche als visuelle Kontextlosigkeit passt zum Fakt, dass der persönliche Bezug zu den Gegenständen, deren Eingebettetsein in einen alltäglichen, lebensweltlichen Gebrauch nicht geklärt wird. Keine erhellenden Anekdoten oder weiterführende Kommentare werden gegeben. Ist für die Künstlerin die Arbeit stets eine Begegnung mit materiellen Zeugnissen und damit verbundenen Erlebnissen ihres früheren Lebens, enthaltet diese Form von persönlicher Archivierung dem Betrachtenden die Erinnerung vor und bewahrt sie stattdessen in einem privaten, uneinsichtigen Status. Zusätzlich zu den Videos sind auf einem Audiodokument Lieder zu hören, welche die Künstlerin oft in ihrer alten Heimat – dem heutigen kroatischen Teil des ehemaligen Jugoslawiens, von wo sie 1989 kriegsbedingt in die Schweiz flüchtete – sang. Einzig aus der Erinnerung und ohne Einübung aufgenommen, entsteht eine akustische Auslage von kirchlichem Gesang, propagandistischen Polit-Songs und kommunistischen Lobeshymnen, die die klangliche Atmosphäre, den akustischen Hintergrundteppich dieses hermetischen Erinnerungsraums bilden.
Auch mit einer Strategie der Vorenthaltung arbeitet der Basler Konzept-Künstler DENIS HANDSCHIN (*1981). Drehen sich seine Projekte oftmals um Fragen des Nichts, des Nichttätigseins oder der Abwesenheit, bildet bei 2010-10-01-expedition-southern_africa ein konkreter Atelieraufenthalt des Künstlers in Südafrika die ursprüngliche Grundlage der Arbeit. Aufgeschriebene Erlebnisse, aber auch daraus weiterentwickelte fiktive Geschichten wollte Handschin eigentlich vor Jahren auf den Karteikarten niederschreiben und aufgereiht in der hölzernen Karteibox präsentieren. Nur setzte er das Vorhaben – obwohl eine erste Anzahl Texte geschrieben wurde – nie vollumfänglich in die Tat um. Dass er nun hier diese Karten in ihrer unbeschriebenen Form zeigt, ist das Resultat eines längeren Entscheidungsprozesses. Handschin arbeitet zur Zeit an einem grösseren internetbasierten Archivprojekt, bei welchem er Dokumente zu seinen realisierten, aber auch zu gescheiterten Vorhaben netzartig verlinken und einsehbar machen möchte. Das Projekt, welches bspw. sein Büro für Nichtstun oder das nicht realisierte Stipendium fürs Nichtstun beinhalten, beständig wachsen und auch von Drittpersonen ergänzt wird, ist aber noch nicht präsentierbar. Entgegen einem solchen Archivprojekt lässt nun 2010-10-01-expedition-southern_africa das Interesse der Einsichtnahme in sein Schaffen unerfüllt, fungiert fast schon als Verweigerung und steht trotzdem im Kern der Arbeiten von Denis Handschin: In der Beschäftigung mit dem Nichts wird auch das Nichtausführen zu einer legitimen Handlung. Dieses Nichts zu archivieren, bedingt aber den erläuternden Kommentar, denn sonst verweist die Arbeit nur auf die physische Präsenz der Karteibox als Mittel der Lagerung und nichts mehr.
ALAIN JENZER (*1974) sammelt schon seit vielen Jahren graue Eternit-Blumenkisten in Brockenhäusern und auf Flohmärkten. In spielerischer Weise bringt er diesen Fundus immer wieder zu Gebilden, installativen Arrangements und räumlichen Anordnungen zusammen und testet das mit Spuren versehene, sehr sinnliche Material auf dessen narratives Potential. Für die aktuelle Ausstellung hat Jenzer die Kisten aber nicht in eine möglichst evokative, sprechende Form gebracht, sondern vergleichbar mit ihrer Lagerung im Atelier auf Paletten geordnet. Das ganze Ausmass seiner Sammlung vor Augen führend, folgt die Präsentation nicht ausschliesslich platzsparenden Prinzipien, sondern Jenzer expliziert vielmehr sein sonst implizit eingesetztes Wissen um die Beschaffenheit der Kisten. Seine bisherige Beschäftigung mit diesem Material führte dazu, dass er die Kisten nach sich ständig ändernden Kriterien, bspw. Eck- oder Griffformen, sortiert und je spezifisch installativ einsetzt um eine bestimmte visuelle Wirkung zu erzeugen. Für KunstArchivKunst macht er diese sonst im Arbeitsprozess getätigte Sortierung zum finalen Werk, gruppiert seinen «Bausatz» (Jenzer) nach Form- und Volumenkriterien und exemplifiziert dabei einen klassischen Mechanismus eines Archivs: das Ordnen nach Kriterien.
Die Befragung von eigenen Arbeitsprozessen findet sich auch bei JAQUELINE BAUMs (*1966) und URSULA JAKOBs (*1955) multimedialer Installation, die Materialien aus ihrem mehrjährigen künstlerischen Forschungsprojekt Connected in Isolation beinhaltet. Das Projekt, welches sich dem Überthema der Isolierung und Reproduktion von Natur widmete, wird hier in eine verräumlichte Form übertragen und als konsultierbare Archivstätte inszeniert. Ausgehend von dem anfänglichen Interesse an wilden, einheimischen Blumen, die Baum / Jakob auf Wanderungen entdeckten, vor weissem Brett fotografierten und in Heliogravuren reproduzierten, erschlossen sich die beiden im Laufe des Forschungsprojekts andere künstlerische und gesellschaftliche Bereiche rund um die Thematik der Isolierung und Reproduktion von Natur. Mittels Recherchen, Interviews und Videoaufnahmen wurden Aspekte der Botanik, der naturalistischen Malerei, der künstlichen In-Vitro-Reproduktion von Pflanzen im Labor sowie der monokulturellen Tulpenzüchterei in einer Industrie-Anlage behandelt. Ein nochmaliges Konsultieren des Materials nach einer ersten Formfindung des Projekts resultierte in der hier’tu sehenden Re-Interpretation. Die ersten finalen Erzeugnisse – Heliogravuren, Fotogramme und eine Videoinstallation – werden hierbei sekundär, eher rücken die Quellen, technischen und inhaltlichen Zwischenstationen in den Vordergrund: botanische Bestimmungsliteratur; Probedrucke, Druckplatten, Wischtücher; zusätzliche technische Erläuterungen; verschiedene editorische Zustände der Interviews sowie der Blick in das Video-Schnittprogramm sind zu sehen. Das ganze Setting wird von den Stimmen der Künstlerinnen als Audiokommentar begleitet.
SONJA FELDMEIERs (*1965) Videoaufnahmen sind 2011/12 während eines mehrmonatigen Aufenthalts in Indien entstanden, davon sind vier Tage an Bildmaterial in Form von Kontaktbögen zu sehen, die jeweils die erste Einstellung eines Clips zeigen. Die Aufnahmen dokumentieren das Fällen eines eigentlich heiligen Baums, der aber offiziell entfernt wurde für eine Strassenerweiterung im Zuge der Vorbereitungen des nächsten hinduistischen Pilgerfest Kumbh Mela in Haridwar, zu welchem alle zwölf Jahre mehrere zehn Millionen Menschen zusammenfinden. Feldmeiers Beitrag, weniger als ein Werk zu verstehen, denn als ein Einblick in den aktuellen Schaffensprozess sowie dessen Archivstruktur, beinhaltet auch mehrere Seiten Videoprotokolle, in welchen die Künstlerin die visuelle und klangliche Eigenschaften, auftretende Figuren sowie Handlungen aller einzelnen Clips schriftlich festhält. Als Eine Art von Einverleibung ihres Videomaterials dienend, konzipiert sie ausgehend von diesen Videoprotokollen den genauen Aufbau ihrer Videoarbeit und erarbeitet einen Leitfaden fur den Schnitt. Der Beitrag zeigt drei unterschiedliche Arten von künstlerischer Archivierung: Das Rohmaterial ist chronologisch, nach Ort sowie Thema abgelegt, die Screenshots der Ordner im Schnittprogramm sind thematisch aufgegliedert und beinhalteten Verweise zum Rohmaterial, die Videoprotokolle behandeln alle Clips in beschreibender, subjektiver Weise.
Der 2011 verstorbene Regisseur, Performer und Künstler NORBERT KLASSEN (1941-2011) sammelte über Jahre hinweg Papieruntersetzer von Kaffeetassen. Jedes Stück der über tausend Exemplare umfassenden Sammlung bezeugt eine eigene Kaffeespur – mal dezent, mal verschüttet. Für Klassen war das Leben meist Kunst genug. In seinem Nachlass finden sich etliche ähnliche Arbeiten. So deponierte er gebrauchte Teebeutel in kleinen Heftern oder legte Unmengen von Papierblättern in Bäche und liess sie durch das Wasser verändern – der beiläufige, alltägliche Akt des Kaffeetrinkens oder der natürliche Begegnung von Wasser und Papier übernehmen bei Norbert Klassen die Rolle der Gestaltung. Mit der sich bis zur Obsession steigernden Sammeltätigkeit bildete Klassen gleichzeitig ein visuelles Echo für solche automatisierte Gestaltung. Die überwältigende Menge an Sammelstücken erzeugt eine Sensibilität für alltägliche, aber häufig übergangene visuelle Phänomene und die Sammlung wird zum Qrt, an welchem das Leben in seiner unfassbaren Mannigfaltigkeit vorgeführt wird.
MO DIENER (*1961) bearbeitet schon seit Jahren unterschiedliche Aspekte der Geschichtsschreibung zu den ethnischen Minderheiten der Roma und Jenischen. Doch sie versteht sich weniger als Historikerin denn als Künstlerin, die mit Geschichte unverfänglich, engagiert, ja aktivistisch umgeht. Dabei funktioniert ihre Arbeitsweise über Interviews mit Historikern sowie Angehörigen der Minderheiten, der Recherche in meist privaten, inoffiziellen Archiven und dem Internet. Doch münzt sie dieses Material zu performativen und räumlichen Interventionen um, die Fragen der sozialen Ausgrenzung, gesellschaftlichen Stigmatisierung und medialen Repräsentation problematisieren. Ihr so vorgeführtes Archiv suggeriert nicht objektivierende Distanziertheit, sondern konzipiert sich als Ort einer physisch-sinnlichen Erfahrbarkeit. In der Ausstellung kommt dies vor allem zutragen bei den beiden in rosa an die Wand geschriebenen historischen Gesetzesartikel zu Transportbestimmungen und staatlicher Kontrolle sowie den am Boden wild verstreuten Bildern, die bei der Google Stichwortsuche «Zigeuner» gefunden wurden. Ersteres scheint in dieser Form weniger Härte als vielmehr eine flüchtige, grundlegend kontingente Verfasstheit nahezulegen. Zweiteres lässt die äusserst klischierten Darstellungen zu einer wertlosen, aber schier endlosen Ansammlung werden. Die vorhandenen Räder, zentraler Bestandteil von Mobilität, lesen sich in dieser Anordnung eher als vereinzelt, aus dem Zusammenhang gerissen. Sie kommentieren die Situation der Fahrenden, welche bis in die 1970er Jahre in der Schweiz durch verschiedene Verbote (bspw. dem Familienverbot) von ihrer nomadischen Existenzweise weitgehend abgehalten wurden, eine Existenzweise, die bis heute, in einer Zeit des globalen Jetsets, für staatliche Reglementierung im Rahmen von Stellplätzen sorgt. Weiters sind Interviews mit dem Rom Liviu Dinu, Soziologe aus Rumänien, und dem Schweizer Historiker Dr. Thomas Huonke-r sowie Videogespräche mit Jenischen der Fahrenden Gemeinschaft an der Feckerchilbi in der Intervention zu hören, bzw. sehen. Am 28. März wird Mo Diener zusammen mit eingeladenen Gästen eine performative Intervention im PROGR-Innenhof realisieren.
Text: Gabriel Flückiger
Das aus einer KünstlerInneninitiative entstandene Projekt OVRA Archives widmet sich seit 2007 der Förderung, Vermittlung und Vernetzung von Kunstschaffenden und ihren Werken.