Mit der Ausstellung Reine Vernunft von Heinrich Gartentor und Delphine Reist eröffnet die Stadtgalerie (Loge) ihre Spielzeit von Januar bis Dezember 2009. Der neue künstlerische Leiter der Stadtgalerie Damian Jurt setzt auf kontextbezogene Ausstellungsformate, die aufzeigen, wie sich gesellschaftliche und politische Spannungen in den Kunstraum übersetzen können.
Den Ausgangspunkt für die Ausstellung Reine Vernunft liefert die aktuelle politische Situation des PROGR_Zentrum für Kulturproduktion selbst: Der PROGR befindet sich im Zentrum der Stadt, in einem Gebäude, das zu den wertvollsten Immobilien der Stadt gehört. Eine dynamische Kunstszene mit internationaler Ausstrahlung sieht sich somit mit profitorientierten Kräften konfrontiert. Diese Situation lässt eine Offenlegung des komplexen Verhältnisses zwischen Kunst und kommerziellen Interessen zu. Ein Verhältnis, das sich in ständiger Veränderung befindet, wie aktuelle Entwicklungen zeigen: Eine Mehrheit der politischen Kräfte in Bern kann sich ein Zentrum für Kulturproduktion als eine dauerhafte Nutzung des ehemaligen Progymnasiums vorstellen.
Die Künstlerin DELPHINE REIST stellt ihre Kunst in Beziehung zu Orten, die sich in Veränderung befinden, wie z.B. still gelegten Industriezonen. Sie arbeitet mit alltäglichen Materialen und gefundenen Objekten und verändert ihre ursprüngliche Funktion so, dass sie auf den Kontext reagieren, in dem sie gezeigt werden. Diese Objekte entwickeln dadurch ein neues Eigenleben, das ihrer früheren Effizienz entfremdet gegenübersteht. Die Aneignung von Gegebenheiten eines Ortes und die gleichzeitige Einmischung in diese Gegebenheiten zeichnen die Arbeitsweise der Künstlerin aus. Die Projekte von Delphine Reist beleuchten ein gesellschaftliches Modell, das vor dem Kollaps steht und lassen Bilder einer surrealistischen Neomoderne entstehen.
HEINRICH GARTENTOR ist das fiktive Produkt des Künstlers, Ausstellungsmachers und Schriftstellers Martin Luethi. Die Figur Heinrich Gartentor wurde 1996 anhand einer fiktiven, online gestellten Biografie geschaffen. Der Verleger Peter Engelmann, der auf diese Biografie aufmerksam wurde und sie als Buch herausbringen wollte brauchte dafür aber die zur Geschichte gehörende real existierende Person. Martin Luethi akzeptierte, sich von da an als Heinrich Gartentor auszugeben. Der Mensch Martin Luethi, der sich im wirklichen Leben nun auch als Heinrich Gartentor ausgab, näherte sich über die Jahre immer mehr der Romanfigur an. Martin Luethi ist also zu dem geworden, was einmal als reine literarisch-künstlerische Fiktion erfunden wurde. Diese Überlagerung von zwei Identitäten lässt eine Kunstfigur entstehen, die sich in einer lebenden Person manifestiert. Es scheint, als ob der Künstler sich selbst als Kunstprojekt gestaltet, welches sich in Raum und Zeit verändert. Diese Verschleierung einer Identität steht dem realen politischen Aktivismus von Martin Luethi gegenüber. Nach der Nationalen Kunstausstellung auf dem Autofriedhof Kaufdorf, die er 2008 organisiert hatte, meldet er sich nun als Künstler zurück.
Für die Ausstellung Reine Vernunft entschied der Künstler Heinrich Gartentor den Innenraum der Stadtgalerie anhand einer Holzwand in zwei Hälften zu teilen. Der vordere Teil des Raumes wird für die Dauer der Ausstellung als Lagerraum kommerziell genutzt. Der hintere, kleinere Teil wird von Delphine Reist als Ausstellungsraum bespielt. Die Fenster-Fassaden der Stadtgalerie verändern sich durch diese Intervention grundlegend: Sie werden mit Holzlatten bedeckt. Der Eingang in den Ausstellungsraum befindet sich neu an der hinteren Fassade der Stadtgalerie. Delphine Reist führt den Betrachter in den Raum in dem sich eine Sammlung von Megaphonen befindet, die ein entfremdetes Eigenleben entwickelt haben. Befindet man sich im neu geschaffenen Ausstellungsraum, hat man durch die Trennwand beschränkten Einblick in den Lageraum. Da dieser nicht begehbar ist, wird eine öffentliche Führung stattfinden, wo er für Besucher zugänglich gemacht wird. Die subtile und verspielte Arbeit von Delphine Reist muss sich im neu begrenzten Ausstellungsraum zurechtfinden und mit der unzulänglichen Situation umgehen. Sie steht der fatalistischen Position Heinrich Gartentors wie ein Hoffnungsschimmer gegenüber. Die institutionskritische Haltung von Heinrich Gartentor und Delphine Reist wagen den Versuch, den Diskurs über die Bedeutung der Kunst in einer zunehmend kommerziell geprägten Landschaft neu anzukurbeln.