Unter dem Titel Sommerfenster lanciert die Stadtgalerie ein gastkuratiertes Sommerprogramm, das sich dieses Jahr mit dem Thema der digitalen Selbstdarstellung befasst. Your Digital Self Hates You zeigt Videoarbeiten neun junger Kunstschaffender, die das Spannungsfeld von digitalem und realem Raum ausloten und durch die Auseinandersetzung mit dem Körper performativen Charakter aufweisen. Soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram, Youtube und zahlreiche andere Orte im Netz ermöglichen heutzutage den Raum, um sich der Öffentlichkeit mitzuteilen. Was in den 1990er-Jahren mit persönlich gestalteten Homepages begann, ist heute für viele zum lukrativen Geschäftsmodell geworden. Sich eine digitale Persönlichkeit zu schaffen ist nicht mehr optional, es wird von der Gesellschaft nahezu vorausgesetzt. Dass sich Kunstschaffende diese Materie zum Thema nehmen, liegt auf der Hand. Kritik an der Aufmerksamkeitsökonomie und Selbstoptimierung findet sich in den ausgestellten Werken ebenso, wie die Frage nach der Zugänglichkeit persönlicher Daten. Die vermeintlich authentische, intime Praxis der digitalen Selbstdarstellung nährt sich von der Resonanz der User-Community im Gegenzug für einen freizügigen Einblick ins eigene Schlafzimmer. Das Bett wird zur Bühne, der eigene Körper nicht selten zum zentralen Material der Performance vor der Computerkamera.
Für Sunny & Benny Together Forever (2008–2009) kreierte SUNITA PRASAD (*1984 in Syracuse, lebt in New York) zwei Accounts auf der Crowdfunding-Homepage myfreeimplants.com. Frauen schreiben sich dort ein, um ihre Brustvergrösserung oder andere Schönheitsoperationen zu finanzieren. Im Gegenzug geben sie erotisches Bild- und Videomaterial für ihre Spender preis. Prasad tritt einmal als Sunny und einmal als Benny auf, um in einer Art Sozialstudie beide Seiten dieser speziellen Online-Gemeinschaft nachvollziehen zu können. Es ist ein Experiment, das sich intensiv mit den Geschlechterrollen und dem Verhältnis von Bezahlung und Arbeit in Form der Freigabe von Bildern des eigenen Körpers auseinandersetzt. Prasad regt damit die Diskussion über die Art und Grenzen der Präsentation des Frauenkörpers in digitalen Medien an, die im Zeitalter der Zensur weiblicher Brustwarzen auf Instagram aktueller nicht sein könnte. In der Ausstellung sind zwei Versionen der Arbeit Sunny & Benny Together Forever zu sehen. Zum einen ist das Experiment als interaktives Werk vertreten, zum anderen wird die Künstlerin am 13. Juli ihre Arbeit in einer Lecture-Performance vortragen.
«Welcome to my world. A world where we are not affected, scared, hurt, where we do not care about white supremacy, homophobia, transphobia, fatphobie, mysogyny, patriarchy…». Dies sind die Worte, mit denen uns TABITA REZAIRE (*1989 in Paris, lebt in Johannesburg) in ihrer Arbeit Peaceful Warrior (2015) begrüsst. Die Künstlerin erscheint auf dem Screen des iPad, tanzt und vollzieht Yogaübungen vor einem sich wechselnden, digital surrealen Hintergrund, der an ein Videospiel erinnert. Rezaire nennt ihr Rezept «Decolonial Self Care» und zeigt in mehreren Schritten, wie man durch Yoga, Meditation und radikale Selbstliebe in den Zustand des «Peaceful Warrior» gelangen kann. Laut Rezaire liegt der Weg für die Befreiung aus dem patriarchalen, homophob-konservativen System in der Kraft der Weiblichkeit. Ideen aus der tantrischen Philosophie mischen sich mit einer cyberfeministischen-popdigitalen Ästhetik. Die Präsentationsform in der Amethystdruse veräussert die in der Arbeit gezeigten Glaubenssätze an Energien und Kräfte der Natur, die in uns weilen und die es zu aktivieren gilt.
AMALIA ULMANS (*1989 in Argentinien, lebt in London und Los Angeles) Excellences & Perfections – Do You Follow? (ICA Offsite) ist eine Abkopplung ihrer gleichnamigen Instagram-Performance von 2014. Inspiriert durch Social Media-Profile zeichnet Ulman anhand ihrer Online-Persona den Aufstieg und Fall einer jungen Frau in der heutigen vernetzten, konsumorientierten Welt nach. Die Entwicklung vom süssen «Hot Babe» aus der Provinz zur draufgängerischen «Crazy Bitch» und deren psychischen Kollaps bis zur Katharsis und Rückkehr zur Normalität und damit zum «Girl Next Door» wird anhand von Bildern, Videos und dazu passend orchestrierten Kommentaren illustriert. So entsteht eine Collage aus Selbstporträts und gefundenen Bildern, die Ulman in glaubhafter Weise inszeniert, sodass ihre Follower die Performance nicht als solche erkennen. Die in der Ausstellung gezeigte Arbeit zeigt sich in Form einer Powerpoint Präsentation an, in der die Stimme der Künstlerin aus dem Off ihre konzeptuelle Arbeitsweise erläutert.
ASMR steht für «Autonomous Sensory Meridian Response» und bezeichnet ein beruhigendes, kribbelndes Gefühl, das bei einigen Menschen durch eine taktile, auditive oder visuelle Stimulation hervorgerufen wird. MAY WAVER (*1993 in Minneapolis, lebt in St. Paul) nimmt sich in ihrer Videoarbeit afferent: ASMR (crinkles + gentle tapping + soft spoken + buttons + clicks + chewing sounds) (2015) diesem Phänomen an. Verschiedene Videoschnipsel, aufgenommen mit dem Mobiltelefon, zeigen die Künstlerin bei simplen Tätigkeiten wie dem Schneiden einer Ananas oder dem Sortieren von Knöpfen. Der Fokus liegt dabei auf den Händen und insbesondere den Geräuschen, die durch die Berührung mit verschiedenen Gegenständen und Materialien entstehen. Ein so banales Ereignis wie das Abreissen eines Stücks Klebeband wird plötzlich zu einem sinnlichen Erlebnis. Waver verweist mit dieser Arbeit auf das Potential solcher Videos, extrem spezifische Vorlieben bedienen zu können. Dank Social Media-Kanälen wie Youtube finden derartige Fetische, die vorher im Verborgenen befriedigt wurden, ein wachsendes Publikum und Öffentlichkeit.
Die in der Ausstellung gezeigte Videodokumentation von ANN HIRSCH gibt einen Einblick in ihre Performance The Scandalishious Project (2008–2009). Während einem Jahr stellte Hirsch in der Rolle ihrer Internet-Persona Caroline, eine 18-jährige Erstsemesterstudentin aus New York, Videos von sich auf Youtube. In Tanz- und Ratgebervideos konnte man als Follower persönliche Einblicke in das Leben der jungen Künstlerin erhalten und wurde aufgefordert zu Kommentieren und selber Videos einzusenden. Das ganze Projekt ist auf Caroline’s Homepage scandalishious.com zugänglich. Hirsch reflektierte mit dieser Arbeit schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt in der Geschichte der digitalen Selbstdarstellung über Rahmenbedingungen einer solchen Praxis. Einerseits stellt das Internet eine offene demokratische Plattform dar, die es Menschen erlaubt, sich in ihrer eigenen Art zu repräsentieren. Andererseits beleuchtet Hirsch die Problematiken, die das Zeigen des eigenen Körpers auf Online-Plattformen mit sich bringen. Die Künstlerin verliert zu einem gewissen Grad die Kontrolle über ihr Werk, die Inhalte werden ohne ihr Wissen weiterverwendet und sie ist negativer Kritik unmittelbar ausgesetzt.
Im Wettbewerb um Likes und Followers, welche nicht nur das kreierte digitale Selbst bekräftigen, sondern sich immer öfter auch monetär niederschlagen, stellt sich die Frage, wie man sich heute noch die nötige Aufmerksamkeit im Netz verschafft. Was muss man tun, um gehört und gesehen zu werden? Die Video-Collage need ideass!?!PLZ!! (2011) von ELISA GIARDINA PAPA illustriert diese Problematik anhand von gesammelten Youtube-Beiträgen. In den Videobotschaften bekennen sich Jugendliche zu ihrem kreativen Defizit und bitten die Youtube-Gemeinschaft um die Einsendung neuer Ideen für einen Webauftritt. Die inhaltliche Ausrichtung des Beitrags scheint dabei sekundär, primär ist es wichtig, im Netz zu erscheinen. Sichtbarkeit und die daraus resultierende Beliebtheit scheint das Ziel dieser jungen Menschen, die oft intimste Details aus ihrem Leben preisgeben.
Die 18-stündige Videoarbeit all by myself (2016) von MOLLY SODA versetzt uns direkt ins Schlafzimmer der Künstlerin, die uns durch ihre Webcam an ihrem Leben teilhaben lässt. Karaoke-Videos und Schmink-Tutorials sind ebenso Teil des Repertoires wie intime Monologe über ihren Seelenzustand. Die Positionierung des Laptops ist dabei immer ungefähr gleich und gibt den Blick frei auf die Inneneinrichtung des Zimmers samt unordentlicher Kleider und Kuscheltiere. Bewusst wird auch offengelegt, dass das Video mit Foto-Booth aufgenommen wurde. Ebenso wie die geringe Auflösung und schlechte Tonspur gehört der Desktophintergrund zur Rahmung der Arbeit. all by myself ist ein ausführliches Tagebuch, das als Referenz auf die soziale Praxis vieler junger Frauen gelesen werden kann. Zwischen Selbstdarstellung und Selbstzweifel schwankend und ohne Scheu für Langeweile, werden Themenfelder wie Attraktivität, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbstfindung und Individualität aufgegriffen. Durch ihre Beharrlichkeit auf Belanglosigkeiten und die Geste der konstanten Betonung von Trivialitäten kann die Arbeit als provokantes Statement auf unsere Gesellschaft gelesen werden.
Als sein Alter Ego PRICE veröffentlichte MATHIAS RINGGENBERG 2015 sein Debutalbum Greatest Hits. Gleichzeitig Persiflage und Verehrung der Ikonen der heutigen Popkultur, benutzt Ringgenberg ein dichtes Netz aus Referenzen und inszeniert sich gekonnt in der Rolle des hingebungsvollen, unnahbaren Stars. Die Kunstfigur PRICE verkörpert den zeitgeistigen Gemütszustand zwischen Selbstfindung, Darstellungsdrang und Lethargie, dem sich viele junge Menschen heutzutage verschrieben haben. Ringgenberg wird die Greatest Hits am 13. Juli in der Stadtgalerie performen. Eine zweite Arbeit Ringgenbergs, die in der Ausstellung zu sehen ist, trägt den Titel Home is a place we all have to find (2016). Als Erforschung der Generation Y, ihren Ikonen und Wertvorstellungen ist diese Arbeit als Metakommentar zu Greatest Hits zu verstehen. Nach einer einleitenden Sequenz mit Nahaufnahmen des singenden PRICE folgt ein Interview zwischen dem Künstler und seinem Freund Niels. Das Gespräch bleibt beim oberflächlichen Geplänkel, bis PRICE seinem Freund die Frage stellt, was er der Welt mitteilen würde, wenn ihn alle in diesem Moment hören und verstehen könnten. «Stop blaming other people» antwortet Niels und bringt damit den Wunsch nach Akzeptanz und Vielfalt in unserer Gesellschaft zum Ausdruck.
Im letzten Raum der Ausstellung erwarten uns zwei Videoinstallationen von CAMILLE KAISER. In Someone Like You (2013) blicken uns vier junge Frauen entgegen, welche die gleichnamige Ballade der britischen Musikerin Adele singen. Kaiser hat die Videos im Internet gefunden und zusammengeschnitten. Der einfühlsame Song wird so zur aufdringlichen Kakophonie aus Stimmen, die nicht harmonieren wollen, obwohl die Vorlage der Interpretation dieselbe ist. Die Arbeit zeigt den schwierigen Spagat zwischen Individualität und Mainstream, mit der sich junge Erwachsene heutzutage konfrontiert sehen. I Love You, Good Night (2015) ist ein Einblick in ein intimes Gute-Nacht-Gespräch. Zwei schläfrige Stimmen erzählen sich im Flüsterton von ihrem Arbeitstag und tauschen Zärtlichkeiten aus. Am Anfang noch kohärent, driftet das Gespräch allmählich auseinander. Auch diese Arbeit ist eine Collage aus Tonspuren von Youtube-Videos, die mit dem Schlagwort ASMR betitelt werden. In der Form des Rollenspiels vollzogen, suggeriert das Video menschliche Nähe und wird zum Substitut für die reale Beziehung. Das persönliche Bettgespräch wird so zum konsumierbaren Gut.