Voyage Voyage – der klingende Hit aus den 1980er-Jahren skizziert das Thema der diesjährigen Cantonale-Ausstellung in der Stadtgalerie. Das Unterwegssein und das Fernweh nach einem exotischen und klischierten Ort des Erlebnisses werden in vielen Arbeiten sichtbar. Vorstellungen des Fremden, vermeintlich typische Verhaltensweisen und das Spiel mit realen Referenzen verdeutlichen sich in den gezeigten Kunstwerken. Die Reise innerhalb der Ausstellung führt nicht nur in ferne Länder, sondern auch in die touristisch bedeutende Schweiz. Mit der thematischen Ausrichtung auf das Reisen knüpft die Cantonale-Ausstellung hier in der Stadtgalerie an das Programm des vergangenen Halbjahres an, dessen Konzept vom Unterwegssein und der damit verbundenen Entstehung eines Netzwerkes von drei Berner Kunstschaffenden ausging.
Das Innenleben des Kastens ist offengelegt: Verkabelung, Neonröhren, Abdeckmaterialien und rudimentäre Motoren sind sichtbar. Es bleibt ungewiss, ob es sich hier um ein Objet Trouvé oder eine Konstruktion des Künstlers JANOSCH PERLER (*1991 in Wünnewil, lebt und arbeitet in Bern) handelt. Durch den MoiréEffekt der sich langsam bewegenden Folie entsteht eine Wellenbewegung, die von mechanischem Meeresrauschen und dem flackernden Neonlicht begleitet wird. Unknown Pleasure (2015) nennt der Künstler das Werk, das trotz seiner unübersehbaren Künstlichkeit einen Sog entwickelt, welcher uns unweigerlich an einen anderen, exotischen Ort entführt.
Die Zwillingsschwestern NATHALIE UND CELIA SIDLER (*1983 in Sarnen, leben und arbeiten in Basel) beschäftigen sich in ihrer künstlerischen Arbeit mit unserem Umgang mit Lebensmitteln. Das Relief der Region um St. Moritz im Massstab 1:20‘000 ist aus Fettstoff geformt. Während der Ausstellungszeit verändert sich das Objekt durch die vorherrschende Temperatur. Das Material sowie der abgebildete Ort werden zu Metaphern von Überfluss, Reichtum und der damit verbundenen Ausbeutung natürlicher Ressourcen.
In Ankeböck und Schnitten (2011/12) spielt ANDREA EBERHARD (*1975 in Bern, lebt und arbeitet in Thun) mit dem Objektstatus: Wir sehen Sonnenanbeterinnen im Bikini auf mit Butter bestrichenen Brotscheiben liegen. Die Keramik-Objekte erinnern an Nippes aus dem Urlaub. Allerdings sind sie als klassische Skulpturenpräsentation auf einem Sockel gezeigt. Der Titel ist ein Wortspiel in Dialekt. Ein «Ankebock» ist im Berndeutschen ebenso ein Butterbrot wie die «Schnitte». Gleichzeitig wird «Schnitte» auch als Bezeichnung für eine attraktive Frau verwendet.
CÉLINE LIEBI (*1994 in Bern, lebt und arbeitet in Basel) setzt sich in ihrer Arbeit Schneeengel werden Sandengel (2015) mit den Geräuschkulissen natürlicher Umgebungen auseinander. Voraussetzung für das Werk war eine Soundperformance mit Gondelgeräuschen an einem Strand in Holland. Die Projektion zeigt eine Fotografie davon, in der Strandund Bergwelt verschmelzen und den Betrachter in eine Dunstwelt der Erinnerung versetzen. In der dazugehörigen Tonspur überlagert sich das Rauschen des Meeres mit dem Surren der Gondeln. Liebi analysiert, wie sich ein vertrautes Geräusch der heimischen Bergwelt gegenüber dem Fremden behauptet und sich durch eine ähnliche rhythmische Wiederholung dessen sogar annähert.
In der 15-teiligen Serie Sinking Islands (2015) hat NICO MÜLLER (*1983 in Balsthal, lebt und arbeitet in Bern) schmelzende Schneereste fotografisch festgehalten. Das Sujet erscheint vertraut und beinahe banal. Durch die Aufnahme in der Vogelperspektive und die Wiederholung des Motivs weitet sich der Blickwinkel bei der Betrachtung von der Mikro- zu einer Makroebene. Die Formen des schmelzenden Schnees werden zu Inseln im Ozean. Der Titel der Arbeit verstärkt diese Assoziation und bringt mit dem Verb «sinking» die Themen der Erderwärmung und Klimaveränderung ins Spiel. Gemeinsam ist den Schneeresten und den imaginierten Inseln, dass sie beide, über kurz oder lang durch die Wärme der Sonne verschwinden werden.
MARTIN MÖLL (*1972 in Bern, lebt und arbeitet in Bern) ist ein Sammler und der seit drei Jahren wichtigste Sammlungsgegenstand sind für ihn die Pilze. Während allen Jahreszeiten treibt es ihn zeit- und raumvergessen in die Wälder und Berge, an Flussufer und in Wiesenlandschaften. Dabei ist die Fotoserie Lauter Brunnen (2015) entstanden: Alle Bilder zeigen, wie der Künstler seinen Kopf in einen Viehbrunnen taucht. In Anlehnung an Erwin Wurms One minute sculptures spricht Möll von seinen Tauchaktionen als 1-minütige Performances. In den Fotos existiert eine geteilte Autorschaft, da Möll jeweils die ihn begleitenden Personen bittet, die Performance festzuhalten.
Was ist das Mindeste an Behaglichkeit, das der Mensch braucht? GÉRALDINE HONAUER (*1986 in Aarau, lebt und arbeitet in Zürich) setzt sich in ihrer Arbeit Minimal Comfort (2014) mit dieser Frage auseinander und entwirft dazu eine aus den drei Komponenten Teppich, Ziegelstein und Stellwand bestehende abstrakte Installation. Die reduzierte Komposition beschreibt einen Innenraum, der für eine einzelne Person bestimmt ist. Die Komfortzone besteht aus einer Abschirmung zur Aussenwelt und einer Unterlage, um Körper und Kopf auszuruhen. Minimal Comfort ist die universalgültige und bestechend einfache Antwort auf das menschliche Grundbedürfnis nach Geborgenheit.
In seiner Serie My mobile phone (2015) fotografiert JOST VON ALLMEN (*1963 in Unterseen, lebt und arbeitet in Unterseen) Leute, die gerade von sich selbst oder einer dritten Person vor grossstädtischen Wahrzeichen fotografiert werden. Das Touristenfoto mit Selbstdarstellungspotential unter dem Motto «I was here» erlebt durch die sozialen Medien weltweit eine exzessive Verbreitung. Von Allmen zeigt in seiner Serie das Paradox dieser Bilder auf: Trotz der exakten Lokalisierung einer Person in diesem Moment sind die Fotos austauschbar und verlieren ihre Einzigartigkeit. Von Allmen benutzte für diese Serie bewusst eine digitale Leica-Kamera, die nur schwarz-weisse Bilder liefert und sich somit an die Tradition der historischen Strassenfotografie anlehnt.
Vier Neonröhren dienen als Aufhängung für mit Linien bedruckte Transparentfolien. Durch die versetzte Anordnung der minimalen grafischen Struktur entsteht ein Moiré-Effekt. Unterstützt durch den Titel Niagara (2015) beginnen wir, in der leicht gewellten und reflektierenden Folie einen Wasserfall zu sehen. BARBEZAT-VILLETARD (Matthieu Barbezat *1981 in Nyon, Camille Villetard *1987 in Paris, leben in Bern und arbeiten in Bern und Sion) haben im Sommer 2015 eine Reise zu den Niagara-Fällen unternommen. Ihre Installation hält den Zwischenzustand von fallendem Wasser fest und ist ihre eigene Interpretation eines der beliebtesten Fotosujets von NordamerikaReisenden.
In seinen skulpturalen Arbeiten betreibt GRÉGORY SUGNAUX (*1989 in Freiburg, lebt und arbeitet in Freiburg und Bern) gewissermassen eine Archäologie der Gegenwart. Er verarbeitet rohe Materialien wie Beton oder Stahl zu Skulpturen, die durch ihre Formen sprache einer vergangenen Kultur anzugehören scheinen. Nouveau Vestige (2015) ist ein solches zeitgenössisches Relikt. Der mit pinken Linien bemalte Turm aus gestapelten Pflastersteinen wird zum Totem einer indigenen und gleichzeitig urbanen Gesellschaft. Ohne auf ihre Historisierung zu warten, reiht sich die moderne Ruine in die Reihe von Sehenswürdigkeiten ein, die es heutzutage allerorts zu besichtigen gilt. Die heutige Technologie ermöglicht uns, am Computer die Welt zu erkunden und uns vor der Abreise schon ein Bild unseres Reiseziels zu machen.
Im Video Fleur du pays, Pegman oder der zeitgenössische Cowboy (2015) von MAGALI DOUGOUD UND NICOLAS RAUFASTE (Magali Dougoud *1986 in Martigny, lebt und arbeitet in Lausanne, Nicolas Raufaste *1988 in Pompaples, lebt und arbeitet in Biel) ist Pegman, das gelbe Lotse-Männchen aus Google Street View, der Protagonist. Das Prinzip der virtuellen Entdeckungstour wird in eine filmische Erzählung übersetzt. Mit Pegman erkunden wir Landschaften und Stadträume und folgen einem Dialog, der sich in seinem Kopf abspielt. Die Bilder wie der dazwischengeschaltete Text setzen sich aus verschiedenen digitalen Quellen zusammen. Das Video thematisiert Auswirkungen uneingeschränkter räumlicher und zeitlicher Zugänglichkeit im digitalen Zeitalter.