Eine Figur gekleidet in eine Lederjacke und mit aufgesetzter Sonnenbrille wandert durch eine städtische Kulisse. Eine Detektivin ist die Protagonistin des Videos Fists Full of Secrets (2019), das für die erste institutionelle Einzelausstellung Truths, Scoops, Consequences der Künstlerin MIA SANCHEZ in der Stadtgalerie Bern entstanden ist. Die dandyhafte Figur folgt Personen, Zielen und Hinweisen, die den Betrachter*innen verborgen sind. Es bleibt unklar, ob auch die Detektivin verfolgt wird. Sie sucht nach Resonanzen im städtischen Raum, die sich beim Umhergehen ergeben, statt nach eindeutigen Ursache-Wirkung-Beziehungen. Sie ist präsent, und doch entzieht sich ihre stoische und mysteriöse Autonomie gängigen Verhaltensmustern. Sie bewegt sich asynchron zu der den städtischen Alltag strukturierenden Zeit. Was sie antreibt, ist nicht die Wiederherstellung einer sozialen Ordnung, nachdem sie durch ein mögliches Verbrechen erschüttert wurde. Das in fortlaufender Wiederholung gezeigte Video dehnt den Moment umherschweifender Offenheit ins Dauerhafte.
Mia Sanchez Arbeiten beschäftigen sich mit Rhythmus, Struktur und Wahrnehmung von Zeit, Sprache und Erzählung in unterschiedlichen künstlerischen Formaten wie Video, Fotografie, und Skulptur. So wie die umherwandernde Figur der Detektivin eingebunden ist in wechselnde Situationen, geht auch Mia Sanchez situationsbedingt vor: Sprache ist für sie stets gebunden an Körper, Gemeinschaft, Beziehung und Überlieferung. «Language is communal, but there is no community».1 Die Protagonist*innen ihrer Videos sind oft Künstler*innen aus ihrem Umfeld, mit denen Mia Sanchez arbeitet. Persönliche Beziehungen und Erinnerungen vermengen sich mit Fiktion und sind nicht mehr voneinander zu trennen. Das Fiktive ist genauso persönlich, und das Persönliche lässt in Mia Sanchez Arbeiten immer auch eine politische Dimension erahnen.
Die Fotoserie Whisper Series (2019) erstreckt sich durch die gesamten Ausstellungsräume und wird rhythmisiert durch deren Architektur. Sie zeigen unterschiedliche Szenen im Freien rund um eine Gruppe von Personen. Ein freizeitliches Zusammenkommen von Freunden? Für wen ist das sich-gegenseitig-ins-Ohr-flüstern verbindend und für wen ausschiessend? Ist es Spiel, Gossip oder sind es Geheimnisse die ausgetauscht werden? Die architektonische Anordnung der Bilder schlägt eine Kommunikationskette vor, die wie das Telefonspiel gleichfalls von Störungen und Unterbrüchen geprägt zu sein scheint.
«Once you have returned to the world of the social clocks, your body temperature rises and your physical speed readjusts to the twenty-four-hour day». 1 Verschiedene Zeiten durchdringen Körper, Material und Sprache in Mia Sanchez Werk: etwa die an Erzählmedien gebundene, fiktive Zeit; die Lebenszeit und die genealogische Zeit; die strukturierende Zeit von Kalender und Uhren; die planetaren Jahres und ihre Vegetationszeiten. Die Subjekte in den Erzählungen der Künstlerin sind verstrickt in diese Zeitlichkeiten, deren Rhythmen und gesellschaftliche Imperative. Das Video Four Seasons and One in between Each (2018) wird durch einen klaren Rhythmus getragen, über den sich eine langsame Erzählstimme legt. Was wirkt, wie eine Art persönlicher Tagebucheintrag, setzt sich zusammen aus Versatzstücken und Zitaten aus Literatur und Populärkultur. Mia Sanchez arbeitet in Video, Text und Bild oft mit Collagetechniken. Die collagierten Stellwände im mittleren- und letzten Raum der Stadtgalerie bewegen sich zwischen Bühnen- und Architekturelement und sind gleichzeitig Plakatwand für die beiden Videoarbeiten.
Die Arbeit Lebenswelt (2019) im mittleren Raum besteht aus drei identischen Hochbetten im Massstab 1:2.5. Die Betten sind unterschiedlich bezogen und erscheinen verlassen. Die Figuren die sie belebt haben müssen, sind abwesend und nur durch die individualisierten Gebrauchsspuren präsent. Die skulpturalen Arbeiten von Mia Sanchez sind oft seriell und spielen mit Skalierung und Bühnenhaftigkeit. Durch Wiederholung und szenenhafte Settings werden narrative Zusammenhänge angedeutet. Manche wirken wie Requisiten aus einem Puppenspiel; durch ihre Assoziationen mit Kindheit eröffnen sie Erinnerungsräume. Als serielle Objekte bewegen sich die Erinnerungsstücke jedoch weg vom rein Persönlichen ins Gesellschaftliche.
Die weibliche Figur der Detektivin, die in Fists Full of Secrets durch die Künstlerin Costanza Candeloro gespielt wird, ist Leitmotiv der Ausstellung Truths, Scoops, Consequences. Ihr umherschweifender Blick kann parallel zur Erfahrung der Besucher*innen gelesen werden und offeriert so mögliche Zugänge zur Ausstellung, die immer auch dazu einladen, Erzähl- und Genrekonventionen zu befragen.
1 Zitat aus Mia Sanchez Video Four Seasons and One in between Each (2018)