Dem Esel wird ein Diplom überreicht, weil er das Lesen gelernt hat. Das Motiv des Ausstellungsplakats zeigt die Künstlerin MAXIMILIANE BAUMGARTNER im Wald stehend in der Rolle des Esels, der die Prüfungskommission von seiner Lesefähigkeit überzeugt hat, nur weil er konditioniert im richtigen Moment «iah» sagen kann. Die Szene entstammt einem Schwank aus Till Eulenspiegel. Es ist eine frühe Satire über die Leerläufe eines rationalisierten Bildungssystems. Das Spiel mit verschiedenen Rollen zieht sich durch Baumgartners Malerei und performative wie pädagogische Praxis; ist Aneignung männlicher Rollenbilder und Verunsicherung tradierter Verhaltensweisen innerhalb öffentlicher Räume.
Baumgartners Malereien sind keine in sich geschlossenen Einheiten. Es sind szenische Elemente, die sie zu temporären Installationen formiert und Teil von Aktionsräumen werden. Die Künstlerin versteht Malerei als soziales Handlungsfeld, das eng mit ihrer pädagogischen Praxis im Austausch steht. Sie dient dazu, verschiedene Räume, Rollen und Perspektiven zu verbinden und zu integrieren. In Komplizenschaft mit Kindern und Jugendlichen reagiert Baumgartner im städtischen Umfeld mit performativen und inszenatorischen Mitteln auf bestehende soziale und institutionelle Gefüge und deren Einschränkungen. Es geht ihr um eine kritische Betrachtungsweise und erlebbare Perspektivenänderungen von sozialen Räumen und ihren Zugängen. Ein Recherchefeld ist ihr dabei die Münchner Aktionspädagogik der 1970/80er Jahre, die parallel zur Aktionskunst entstanden ist: Seit 2015 initiiert und programmiert sie (für Kultur & Spielraum e.V.) in München das Kunstprojekt und mobiler Aktionsraum «Der Fahrende Raum» in wechselnden Kollaborationen mit anderen Künstler*innen und Pädagog*innen.
In der Ausstellung Viele Vampire sind Vögel steht Baumgartners Arbeit mit pädagogischen Spielsettings im Zentrum. Die in der Stadtgalerie gezeigten Malereien sind Archiv vergangener Aktionen, und deuten zugleich das Potential an, sich zukünftig zu neuen Aktionssettings zu formieren. Wohnblöcke verweben sich in den Bildern mit Bühnenelementen und temporären Architekturen; Kinder und Pädagog*innen sind in wechselnden Rollen-, Zuschauer*innen- und Akteur*innen-Verhältnis zu sehen. Die Beziehung zwischen diesen Elementen bleibt innerhalb der Bilder unklar, und verweist dadurch auf den Möglichkeitsraum der Aktion und Performance, in denen diese Verhältnisse immer wieder von neuem verhandelt werden müssen.
Das Bild Der Chindlifresserbrunnen ohne Chindlifresser (2019) zeigt Versatzstücke des in der Berner Altstadt stehenden «Chindlifrässerbrunnens», eine Kinderschreckfigur aus dem 16. Jahrhundert und fester Bestandteil des historischen Stadtbilds. Zu sehen sind das tragende Kapitell und Fundament des Berner Brunnens. Die Figur des Kinderfressers hat Baumgartner bewusst ausgespart. Jene Figur, deren antijüdischer Hintergrund zwar historisch nicht eindeutig geklärt ist, diese Unklarheit bis heute aber auch nicht Teil der öffentlichen Repräsentation der Skulptur ist. Das Bild schliesst an Baumgartners Praxis an, mit den (selbstreflexiven) Mittel der Malerei staatliche Repräsentationsräume und deren post-demokratische und rechte Unterhöhlung zu untersuchen. In Courtroom #1 – #3 beispielsweise beschäftigte sich Baumgartner zusammen mit Alex Wissel wie sich rechte, rassistische Strukturen in Räumen der öffentlichen Rechtsprechung einschreiben. In dieser Werkserie versuchen sie in Kooperation mit wechselnden Autor*innen eine Form der Gegenöffentlichkeit zu schaffen, indem sie zeigen, was zum Teil nicht medial repräsentiert und damit nicht gehört und nicht gesehen wird. Das Interesse, den vermeintlich entpolitisierten Raum mit künstlerischen Mitteln (wieder als politisch) erfahrbar zu machen, ist ein zentrales Anliegen von Baumgartners Praxis.
In den Räumen der Stadtgalerie zeigt die Künstlerin ihre Malereien in einem veränderbaren Displaysystem. Die Möglichkeit eines Kontextwechsels ist auch bereits in der Materialität der Bilder angelegt: Lackfarbe und Alu Dibond als Bildträger erlauben die Verwendung und Präsentation im Aussenraum. Das mehrteilige Wandbild an der Fassade der Stadtgalerie, das für diese Ausstellung entstanden ist, führt das vor. Die bemalten Paneele erweitern die Ausstellung nach aussen hin und markieren die verschiedenen institutionellen Räume – das ehemalige Progymnasium, die gegenüberliegende Polizei, Spielplatz, privates Heim – und behaupten die Malerei als einen alltäglichen Handlungsraum. Ein Anliegen das sich in den gemalten, gestreiften Markisen artikuliert, die einerseits die Storen des Gebäudes aufnehmen, andererseits an die vertikalen Streifen des Künstlers Daniel Buren erinnern. Ein anderes Paneel zeigt Doris Stauffer als Hexe. Die Künstlerin und Lehrende leitete ab 1977 den «Hexenkurs» für Frauen an der F + F Schule für experimentelle Gestaltung in Zürich. Emanzipatorische Möglichkeiten kritischer und feministischer Pädagogik sind auch bei Baumgartner zentrale Fragestellungen einer Praxis, welche die festen Trennlinien zwischen Kunstproduktion und deren Vermittlung immer wieder hinterfragt. Gusto Gräser, Wanderpoet, Reformer und Mitbegründer des Monte Verità ist eine andere Bezugsfigur, die in den Malereien in den Ausstellungsräumen der Stadtgalerie erscheint, und in deren Rolle die Künstlerin tritt. Gräser ist eine Künstlerfigur die bereits in anderen kollaborativen Zusammenhängen auftaucht, die Baumgartner initiiert hat, wie zum Beispiel dem Performativen Gusto Gräser Kinder-Archiv. Sein Leben und Werk ist Ausgangslage für die Befragung und Erweiterung durch Kinder und Jugendliche. Innerhalb ihrer pädagogischen und künstlerischen Arbeit benutzt Baumgartner Mittel einer fortlaufenden Geschichtsschreibung von unten mit malerischen und performativen Mitteln.
Für die Ausstellung ist ein Spielwagen entstanden, der Skulptur und gleichzeitig erweitertes künstlerisches Handlungsfeld ist: Auf dem Spielplatz Längmuur und dem Spielplatz am Schützenweg – Erben der Freien Pädagogik in Bern – werden damit Aktionen mit Kindern stattfinden. In Baumgartners Verständnis der Kunstproduktion gibt es einen ökologisch-ökonomischen Aspekt, der sich unter anderem auch in der Anschlussfähigkeit ihrer Malereien widerspiegelt. Gemeint ist die Möglichkeit der Weiterverwendung von Teilen ihrer Arbeit in neuen Installationen und Aktionsräumen. So wird der Spielwagen, der für die Ausstellung in der Stadtgalerie entstand, weiterreisen und zum Ausgangspunkt für kommende Aktionen mit Jugendlichen und Kindern werden.